Ein Zeichen klarer Haltung
Im Interview mit Christian Wulff, dem Vorsitzenden des Stiftungsrates der Deutschlandstiftung Integration und Bundespräsident außer Dienst, zeigt der Politiker auf, welche Bedeutung kulturelle Vielfalt für die Gesellschaft hat und welche Bereicherungen sich daraus für das Miteinander ergeben.
Vor zwölf Jahren stießen Sie durch Ihre vielbeachtete Rede eine breite gesellschaftliche Debatte zum Thema Integration an. Was hat sich aus Ihrer Sicht seitdem in diesem Lande getan, wenn man das Thema vor dem Aspekt des gleichberechtigen Zusammenlebens von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen betrachtet?
Christian Wulff: Deutschland ist noch vielfältiger geworden, reicher an Menschen mit verschiedenen Biografien, Herkünften und Kulturen. Es wird weniger gefragt, woher jemand stammt, sondern wohin wir gemeinsam wollen. Auch der neu gewählte Deutsche Bundestag hat mehr Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Das Zusammenleben gelingt zum Großteil harmonisch und respektvoll. Als erfreulich empfinde ich, dass die Toleranz in unserem Land zunimmt, und das meistens dort, wo die Vielfalt am größten ist. Gleichwohl existieren auch polarisierende und spaltende Stimmen, denen man weiterhin klar entgegentreten muss. Das Gemeinsame und die Zusammengehörigkeit sind in den Vordergrund zu stellen, nicht das Trennende. Daran müssen wir dauerhaft arbeiten.
Wenn Sie an das Zusammenleben in Deutschland im Jahr 2030 denken, was muss aus Ihrer Sicht jetzt verstärkt angepackt werden, damit Integration bis dahin noch besser gelingt und die Chancen von kultureller Vielfalt genutzt werden?
Christian Wulff: Ich setze vor allem auch in die junge Generation Hoffnung. Sie ist schon breiter aufgestellt und konfrontiert mit Einflüssen aus verschiedenen Herkünften, Perspektiven und anderen Kulturen. Integration ist immer eine Aufgabe, in der alle aufeinander zugehen sollten. Mit Neugier, echtem Interesse und Einfühlungsvermögen. Wir können diese Entwicklung unterstützen, indem wir uns entschieden überall gegen Rassismus und Ausgrenzung starkmachen. Wir müssen beständig für unsere freiheitliche offene Gesellschaft werben, auf das Verbindende der Grundrechte und der Menschenwürde aller in unserer Gesellschaft setzen. Unser Grundgesetz gibt uns dafür den richtigen Kompass. Unsere Art, zu leben, ist von allen zu respektieren. Dann gelingt ein erfolgreiches friedliches Zusammenleben.
Das Gemeinsame und die Zusammengehörigkeit sind in den Vordergrund zu stellen, nicht das Trennende. Daran müssen wir dauerhaft arbeiten.
Nicht zuletzt durch die alternde Gesellschaft und den Fachkräftemangel ist ein verstärkter Zuzug für die Wirtschaft unabdingbar. Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Vorteile einer vielfältigen Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberschaft?
Christian Wulff: Unsere sozialen Sicherungssysteme, die Rentenversicherung, die Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung, brauchen Beitragszahler:innen, die boomende Wirtschaft braucht Arbeitskräfte. Wir haben jetzt schon einen erheblichen Mangel an Auszubildenden. Es ist zudem erwiesen, dass ein Unternehmen erfolgreicher ist, wenn es diverser aufgestellt ist. Internationale Studien zeigen, dass eine klare Verbindung zwischen einer vielfältigen Mitarbeiterschaft und der Profitabilität eines Unternehmens besteht. Wir sehen das seit langem schon im Sport, in der Kultur, in der Wissenschaft, in den Medien und bei den Existenzgründungen. Wir erleben, dass Menschen mit Migrationsbiografien einen großen Wettbewerbsvorteil für Deutschland bedeuten, weil sie oft mutigere Gründerinnen und Gründer sind und durch die persönlichen Erfahrungen aus unterschiedlichen Kontexten mit neuen Perspektiven kreative Strategien einbringen. Die faszinierenden Forscher und Gründer von Biontech, Türeci und Sahin, haben in der Corona-Pandemie weltweit Aufsehen erregt, indem sie hochwirksame mRNA-Impfstoffe in kürzester Zeit produktionssicher entwickelten. Erfolgreich zusammenarbeiten ist die Erfolgsformel. Wenn wir im Berufsleben mitanderen Kulturen, Sprachen und Sichtweisen aus uns fremden Kontexten konfrontiert werden und zusammenarbeiten, entwickeln wir Verständnis füreinander, entwickeln zusammen kreative Lösungen, erweitern unseren Horizont und können der Gesellschaft insgesamt als Vorbildfunktion dienen. Es ist eine Win-Win-Situation für alle.
Eine gelungene Integration lebt vom Engagement aller, alle Seiten sind aufgefordert, ihren Beitrag zu leisten. Was ist Ihr konkreter Rat an jeden Einzelnen, ob im Privatleben oder im beruflichen Umfeld?
Christian Wulff: Mein Rat ist ein ganz schlichter: einander zuhören. Ich lege jedem Menschen drei Eigenschaften ans Herz: Offenheit, Toleranz und Einfühlungsvermögen. Sie haben das Interview mit meiner Rede vom 3.10.2010 begonnen. Ich halte mich an Papst Franziskus und seine faszinierende Enzyklika „Fratelli tutti“ – die Enzyklika über die Geschwisterlichkeit, inspiriert vom Großimam aus Abu Dhabi, die er exakt zehn Jahre später, am 3.10.2020 in Assisi/Italien, unterzeichnet hat: Der Papst erinnert uns, dass wir alle gleich sind – egal, woher wir kommen oder was wir glauben – und alle gleich viel geliebt werden. So sollten wir miteinander umgehen. Mit Respekt und gegenseitiger Wertschätzung. Behandele jede und jeden, wie du selbst, wo auch immer, behandelt werden möchtest.